Ein körperpolitischer Ansatz des Essens – Vietnam im Geflecht globaler Transformation

 


Das Projekt

Projektleitung: Dr. Judith Ehlert
Projektmitarbeiterinnen: Mag.a Nora Faltmann (prae doc) und Carina Maier (Forschungsassistentin)
Finanziert von/Kooperation mit: FWF – Der Wissenschaftsfonds
Projektlaufzeit: 01.01. 2015 bis 31.12.2019


Zum Inhalt

Nahrung überquert körperliche und symbolische Grenzen und vermag dabei Gegenwart und Vergangenheit, Individuum und Gesellschaft, und den Haushalt mit der Weltwirtschaft in Verbindung zu setzen (Belasco 2007: 5). Der Akt der Einverleibung stellt diese Verbindung her – zwischen dem Körper, dem Selbst und der Welt. Im Kontext von Nahrungsmittelüberfluss sowie der Modernisierung des Agrar- und Lebensmittelsystems globaler Konsumgesellschaften wird dieser Akt der Einverleibung komplizierter. Ernährungsweisen verändern sich, die kulinarischen Möglichkeiten werden unübersichtlicher – Lebensmittelskandale, Konsumethik, Ernährungs- und Lifestyleratgeber, Kalorienzählen, Fettleibigkeit als ‚Zivilisationskrankheit‘ – es entsteht wachsende Komplexität, getragen von widersprüchlichen Diskursen und Politiken hinsichtlich Genuss und Genügsamkeit.

In diesem Kontext wird die scheinbar banale Alltagspraxis des Essens zum integrativen Bestandteil der Aushandlung gesellschaftlicher Positionierungen, Abgrenzungen, Zuschreibungen und zunehmend zum Drehpunkt sozialer Ängste und Ambivalenzen. Wissen, Produktionsstrukturen, gesellschaftliche Normen hinsichtlich Essensregulierung und Nahrungstabus und soziale Ungleichheit schreiben sich in den Körper ein. Gleichzeitig – aus Akteursperspektive – stellt Essen eine sinnhafte Erfahrung von Leiblichkeit und lebensweltlichem Handlungsspielraum dar. Diese konfliktive Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft, Körper und Selbst nahm das Projekt mit  dem körperpolitischen Ansatz des Essens ins Visier, um zu verstehen, wie Konsument*innen durch den Dschungel der Möglichkeiten und des Überflusses sinnstiftend manövrieren, welche (neuen) Bedeutungen sie dem Essen dabei zuschreiben und sich gesellschaftlich verorten.

Nach den eindrücklichen Erfahrungen des Krieges und Zeiten der extremen Nahrungsunsicherheit und des Hungers sieht sich die Bevölkerung Vietnams seit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1980er Jahre einer wachsenden Vielfalt von (ausländischen) Nahrungsmittelangeboten gegenüber. Geprägt durch die Ideologie des kommunistischen Einparteienstaates und der gleichzeitig rasanten neoliberalen Entwicklung befindet sich die Gesellschaft im Prozess, die neu entstehenden Räume sozialer Distinktion und Individualität zu gestalten. Die Ausdifferenzierung von Ernährungsweisen spielt in dieser Aushandlung eine zentrale Rolle. Das Projektthema ‚Essen‘ wird somit zu einer Linse, durch die gesellschaftlicher Wandel in Vietnam im Kontext von Globalisierung zugänglich gemacht wird. Dabei nahm das Projekt empirische Phänomene in den Blick, an denen sich Diskurse und Praktiken rund um Körpernormen, Geschlechterrollen, gesellschaftlichen Status sowie soziale Ungleichheit anhand von Essen beobachten ließen.

Themenkomplex Lebensmittelsicherheit und soziale Ungleichheit
Ein Fokus des Projekts lag auf Lebensmittelsicherheit, deren Mangel in Vietnam zur Zeit allgegenwärtig diskutiert wird und eine zentrale Herausforderung des Lebensmittelsystems darstellt. Aus Akteursperspektive widmete sich Nora Faltmann dem Thema Lebensmittelsicherheit aus der Sicht urbaner Konsument*innen. Zentral waren dabei die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Risiken von Lebensmittelsicherheit sowie die zahlreichen Strategien, mit denen Konsument*innen versuchen, „sicher“ zu konsumieren. Mangelnde Lebensmittelsicherheit sowie der Umgang damit wurden in Bezug zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderung wachsender sozialer Ungleichheit gesetzt. Der unterschiedliche Zugang zu nichtschädlichen Lebensmitteln äußert sich auch in Form gesundheitlicher Ungleichheit, wodurch der Bezug zum körperpolitischen Ansatz des Projektes hergestellt wurde.

Themenkomplex Schönheit, Essensregulierung, Sorgearbeit und Geschlecht
Vor dem Hintergrund der wachsenden Körper- und Schönheitsindustrie, allgegenwärtiger Diskurse zu Übergewicht sowie der steigenden Nachfrage nach körperformenden Produkten und Praktiken widmete sich die Projektleitung dem Zusammenspiel von gesellschaftlichen Körperidealen und der Regulierung von Ernährung und Essverhalten. Die Forschung fokussierte dabei u.a. die Entwicklung von Diätverhalten, die ‚Überfütterung‘ von Kleinkindern und die soziale Einbettung der Entstehung von Esstabus und –Störungen.

Zentraler Teil des Projekts waren die intensiven Feldforschungen in Vietnam die eine Vielzahl qualitativer sozialwissenschaftlicher Methoden verbanden. Empirischer Zugang erfolgte über soziale Arenen, wie Familien, Supermärkte, gastronomischer Sektor, Bioläden, Märkte, Shoppingmalls und Fitnessstudios, Gesundheitsberatungen (etc.), definiert als soziale Räume, in denen staatliche Politiken, wissenschaftliche Erkenntnisse, globale und lokale Diskurse und Normen bzgl.  Schönheit, Gesundheit und Ernährung interagieren und im Alltag der Akteure ihre Aushandlung finden. Durch theoretical sampling wurden die Perspektiven unterschiedlicher Akteur*innen in die Forschung aufgenommen sowie Fragestellungen im Sinne der Grounded Theory kontinuierlich weiterentwickelt.

News

2021 Ehlert, J. (2021) “Food consumption, habitus and the embodiment of social change: Making class and doing gender in urban Vietnam”. The Sociological Review Monographs, 69(3): 681-701.

2019 Buch "Food Anxiety in Globalising Vietnam" (Palgrave Macmillan).

08/2017 Visual Working Methods in Qualitative Social Science Research
Research workshop in cooperation with SISS (Southern Institute of Social Sciences), HCMC, Vietnam.

09.10.2017 "Durch dick und dünn – Welternährung auf dem Prüfstand“
Mag. Nora Faltmann als Expertin bei der Podiumsdiskussion, die zum Anlass des Welternährungstags stattfand.

12.07.2017 Selbstinszenierung mit jedem Biss
Das uni:view Magazin veröffentlicht ein Interview mit Dr.in Judith Ehlert.

02.03.2017 Eat | Drink | Man | Woman. Gastropolitics in postsocialist Vietnam
Public Lecture von Dr. Nir Avieli im Rahmen des AutorInnen-Workshops.

03/2017 "Food Anxiety in South-East Asia & Beyond"
Internationaler AutorInnen-Workshop in Wien im Rahmen des Projektes mit dem Ziel der Erarbeitung und Herausgabe einer Fachpublikation. 

12/2016 Emerging Consumerism and Eating Out in Ho Chi Minh City, Vietnam: The Social Embeddedness of Food Sharing
Open Access Book Chapter

06/2016 "Vietnam ist, was es isst, und verändert sich gerade"
Die Tageszeitung Die Presse berichtet über das Projekt sowie erste Eindrücke aus der Feldforschung. http://diepresse.com/home/science/5002818/Vietnam-ist-was-es-isst-und-veraendert-sich-gerade

11/2015 "Am Esstisch rückt die Welt zusammen"
Pressebericht zum Projekt im Rahmen der Reihe ‚Wissenschaft Spezial‘ in der Tageszeitung Der Standard. http://derstandard.at/2000025019216/Am-Esstisch-rueckt-die-Welt-zusammen